Kirchliches Glockengeläut vor Sonnenaufgang
Liturgisches Glockengeläut ist auch am frühen Morgen für Anwohner zumutbar, es verletzt nicht die Grundrechte der Anwohner.
So entschied jetzt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim, dass das zweiminütige liturgische Glockengeläut der Konradskirche in Remshalden-Geradstetten werktags um 6 Uhr für einen Anwohner der Kirche nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz zumutbar ist, und zwar auch unter Berücksichtigung seiner Grundrechte, insbesondere der Religionsfreiheit.
Der Kläger in dem jetzt vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg entschiedenen Rechtsstreit bewohnt ein ca. 68 m von der Konradskirche entferntes Wohnhaus. Die beklagte Evangelische Kirchengemeinde Geradstetten läutet an jedem Werktag um 6 Uhr zwei Minuten lang die große Betglocke im Kirchturm. Der Kläger, der selbst Mitglied in der evangelischen Landeskirche ist, sah sich durch das Glockengeläut in seinen Grundrechten verletzt, insbesondere in seiner Religionsfreiheit. Er werde gezwungen, ein akustisches religiöses Zeichen zu hören. Verfrühtes Glockengeläut störe ihn auch beim Lesen der Bibel oder der Meditation; vor Sonnenaufgang wohne dem Glockenläuten ein heidnisches, der Abwehr böser Geister dienendes Element inne. Die Evangelische Kirchengemeinde berief sich auf ihr kirchliches Selbstbestimmungsrecht und ihre Religionsfreiheit. Das morgendliche Geläut sei Zeichen für den Tagesbeginn mit Gott; dieser Brauch werde seit langem gepflegt und sei sozial angemessen.
Mit seiner Klage begehrte der Kläger die Verurteilung der Beklagten, es zu unterlassen, die Glocken im Kirchturm täglich zwischen 6 und 8 Uhr zu läuten oder läuten zu lassen. Das Verwaltungsgericht Stuttgart verneinte einen solchen Unterlassungsanspruch. Dem schloss sich auf die Berufung des Klägers nun der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Ergebnis an.
Der Verwaltungsgerichtshof stellt zunächst fest, dass es nicht um eine innerkirchliche Angelegenheit gehe, die der Zuständigkeit staatlicher Gerichte entzogen wäre. Der Kläger fühle sich nicht als Kirchenmitglied gestört. Er sehe im Glockengeläut vielmehr eine akustische Beeinträchtigung seiner persönlichen, auch von religiösen Vorstellungen getragenen Ruhe. Insoweit stehe ihm aber auch unter besonderer Berücksichtigung seiner Grundrechte kein öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz zu. Das Glockengeläut sei keine schädliche Umwelteinwirkung im Sinne dieses Gesetzes. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass die damit verbundenen Immissionen Schwellenwerte der Technischen Anleitung (TA) Lärm überschritten. Die Immissionen seien zudem herkömmlich, sozial angemessen und allgemein akzeptiert. Die TA Lärm schütze die Nachtruhe grundsätzlich nur bis 6 Uhr.
Anderes ergebe sich auch nicht unter Berücksichtigung der Grundrechte des Klägers. Das Glockengeläut berühre zwar seine Religionsfreiheit. Diese Einwirkung gehe aber nicht vom Staat aus. Der Staat sei auch nicht verpflichtet, zum Schutz der Religionsfreiheit des Klägers gegen die Beklagte einzuschreiten. Die Beklagte übe mit dem Glockengeläut ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte eigene Rechte aus. Die widerstreitenden grundrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen seien daher in einer Abwägung schonend auszugleichen. Dieser schonende Ausgleich liege in der Beachtung der immissionsschutzrechtlichen Schwellenwerte. Ein weitergehender Immissionsschutz vor Glaubens- und Bekenntnisbekundungen der Beklagten stehe dem Kläger nicht zu. Denn dies würde der laizistischen Weltanschauung einen mit der Religionsfreiheit unvereinbaren Vorrang gegenüber anderen Weltanschauungen einräumen. Im Übrigen verbleibe dem Kläger schon wegen der Kürze des Läutens der größte Teil der Zeit zwischen 6 und 8 Uhr zu ruhiger Schriftlesung und Meditation. Schließlich geböten auch das Eigentumsgrundrecht, das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung und der allgemeine Gleichheitssatz oder eines der speziellen grundrechtlichen Diskriminierungsverbote keine abweichende Würdigung.
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 3. April 2012 – 1 S 241/11