Einkesseln erlaubt…

Identitätsfeststellung und Freiheitsentziehung durch die Polizei im Rahmen einer Demonstration ist auch dann zulässig, wenn der betroffene Teilnehmer friedlich demonstriert.

Mit dieser Begründung hat das Bundesverfassungsgericht aktuell die Verfassungsbeschwerde eines Demonstranten gegen die polizeiliche Identitätsfeststellung und die damit verbundene Freiheitsentziehung durch Einkesselung bei einer Demonstration im Juni 2013 zum Thema „Europäische Solidarität gegen das Krisenregime von EZB und Troika“ in Frankfurt am Main nicht zur Entscheidung angenommen.

Der Ausgangssachverhalt[↑]

Der Versammlungsteilnehmer nahm im Juni 2013 an einer Demonstration zum Thema „Europäische Solidarität gegen das Krisenregime von EZB und Troika“ in Frankfurt am Main teil. Nach den Feststellungen der Fachgerichte legten einige Versammlungsteilnehmer bereits vor Beginn des Aufzugs Vermummung an und führten verbotene Gegenstände mit. Gegen 12:30 Uhr setzte sich der Aufzug in Bewegung. Die Sicht in zwei Teile des Aufzugs wurde durch zusammengeknotete Transparente sowie immer wieder aufgespannte Regenschirme verhindert. Seitlich führten die Teilnehmer dort mit Kunststoffplatten verstärkte und mit Halteschlaufen versehene Styroporschilde mit. Nicht zugelassene Pyrotechnik wurde gezündet und Teilnehmer begannen, schwarze Oberbekleidung anzulegen. Einige Personen zogen selbstgefertigte Plastikvisiere vor ihr Gesicht. Holzstangen und Seile wurden als Seitenschutz zum Einsatz gebracht und umschlossen einen Teil des Aufzugs in Verbindung mit den Schildern und den Transparenten U-förmig. Im weiteren Verlauf wurden Pyrotechnik und mit Farbe gefüllte Flaschen und Beutel auf Einsatzkräfte geworfen. Um 12:49 Uhr wurde dieser Teil der Versammlung gestoppt und von dem übrigen Aufzug abgetrennt, indem 943 Personen durch Polizeiketten eingeschlossen wurden. Unter ihnen befand sich auch der Versammlungsteilnehmer. Nachdem eine Einigung zwischen der Polizei und den Versammlungsteilnehmern über das weitere Vorgehen nicht zustande kam, ordnete die Polizei im Einvernehmen mit der Versammlungsbehörde um 14:40 Uhr an, die eingeschlossenen Personen von der Versammlung auszuschließen. Die Polizei errichtete 15 Video-Durchlassstellen, durch die die Eingeschlossenen die Umschließung verlassen konnten, wo zunächst ihre Identität festgestellt, ihre mitgeführten Sachen durchsucht und sie erkennungsdienstlich behandelt (Videografierung) wurden und ihnen sodann ein Aufenthaltsverbot für den Innenstadtbereich Frankfurt am Main erteilt wurde. Bei Durchführung der polizeilichen Maßnahmen kam es wiederholt zu teilweise erheblichem Widerstand gegen die eingesetzten Polizeikräfte, die mit Regenschirmen und Holzlatten attackiert wurden. Pro Minute konnte die Identität von drei Personen festgestellt werden. Der Versammlungsteilnehmer konnte den Polizeikessel gegen 17:30 Uhr verlassen.

In der Folge wurde ein gegen den Versammlungsteilnehmer eingeleitetes Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Der Versammlungsteilnehmer beantragte die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung, der Identitätsfeststellung und der Durchsuchung. Zugleich beantragte er wiederholt Akteneinsicht insbesondere auch in das Videomaterial zum Polizeieinsatz.

Die Entscheidungen der Frankfurter Justiz[↑]

Nach Verweisung durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof stellte das Amtsgericht Frankfurt am Main mit angegriffenem Beschluss vom 24.09.2014 analog § 98 Abs. 2 StPO fest, dass die erfolgte Freiheitsentziehung gemäß §§ 163b, 163c StPO rechtmäßig gewesen sei[1]. In dem eingekesselten Versammlungsteil hätten sich ganz überwiegend Verdächtige einer Vielzahl von während des bisherigen Demonstrationsverlaufs verübten Straftaten befunden. Da sich auch der Versammlungsteilnehmer in dieser Personengruppe befunden habe, habe auch gegen ihn ein Anfangsverdacht wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, das Sprengstoffgesetz oder wegen Widerstandshandlungen bestanden. In Ansehung des unfriedlichen Verlaufs der Demonstration und der Vielzahl der Verdächtigen sei die Feststellung von deren Identität und damit auch der des Versammlungsteilnehmers anders als durch Festhalten nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich gewesen. Das Festhalten sei auch lediglich bis zum Passieren der zum Zwecke der Identitätsfeststellung eingerichteten Videodurchlassstelle und damit nicht länger als zur Feststellung der Identität unerlässlich erfolgt. Eine Vorführung vor den Richter sei bereits faktisch erst nach Passieren des Kesselausgangs möglich gewesen.

Mit angegriffenem Beschluss vom 30.12 2014 verwarf das Landgericht Frankfurt am Main die Beschwerde gegen die Entscheidung des Amtsgerichts als unbegründet[2]. Allein die Tatsache, dass der Versammlungsteilnehmer Teil der Personengruppe gewesen sei, aus der heraus Straftaten verübt wurden, begründe konkrete Anhaltspunkte dafür, dass er nicht frei vom Verdacht der Beteiligung an einer Straftat gewesen sei. Die polizeiliche Maßnahme sei auch verhältnismäßig gewesen. Aufgrund der dezidierten und umfassenden polizeilichen Dokumentation über den Einsatzverlauf der Demonstration könne kein Zweifel bestehen, dass von der eingeschlossenen Demonstrationsgruppe eine Vielzahl strafrechtlich relevanter Aktionen ausgegangen sei, ohne dass die Polizeibeamten in dem dynamischen Geschehen einer Großdemonstration in der Lage gewesen sein konnten, jeden potentiellen Störer oder gar Straftäter aus einem ersichtlich gewaltbereiten Block gezielt herauszudeuten. Aus der schriftlichen Dokumentation ergebe sich auch eine vielfältig abgestufte Vorgehensweise der Polizei, die in ständigem Dialog mit dem Versammlungsleiter und dessen Rechtsvertreterin gestanden habe, bevor die Einsatzleitung den formalen Teilausschluss verfügt habe. Durch die Einrichtung von 15 Video-Durchlassstellen habe sich die Dauer der Einschließung deutlich reduziert. Die Feststellung der Identität sei ferner vor dem Ergehen einer richterlichen Entscheidung zu erwarten gewesen, da eine Vorführung vor den Richter ebenfalls erst nach Passieren des Kesselausgangs faktisch möglich gewesen wäre.

Das Landgericht schloss zudem aus, dass sich durch die Inaugenscheinnahme des 1-Terabyte[3] bemessenden Videomaterials ein für die relevante Rechtsfrage abweichender Sachverhalt ergeben könnte, weswegen dem Versammlungsteilnehmer keine weitere Akteneinsicht zu gewähren sei. Aufgrund des vorhandenen Aktenmaterials sowie der Tatsache, dass der Versammlungsteilnehmer die Videostelle passiert habe, stehe fest, dass er Teil der Personengruppe gewesen sei, aus der Straftaten hervorgingen. Deswegen habe ihm gegenüber ein konkreter Anfangsverdacht bestanden. Dies werde von dem Versammlungsteilnehmer nicht in Abrede gestellt. Für die zu entscheidende Rechtsfrage stehe der Sachverhalt damit vollständig fest, weshalb keine Notwendigkeit bestehe, weitergehende Akteneinsicht in das von der Polizei gefertigte Videomaterial zu gewähren, zumal dies kein Aktenbestandteil sei.

Mit angegriffenem Beschluss vom 27.01.2015 wies das Landgericht die Anhörungsrüge des Versammlungsteilnehmers als unbegründet zurück[4].

Die Verfassungsbeschwerde[↑]

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Versammlungsteilnehmer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG.

Abs. 1 GG sei verletzt, weil Amtsgericht und Landgericht über die Anträge entschieden hätten, ohne vorher die beantragte vollständige Akteneinsicht zu gewähren und den Versammlungsteilnehmer persönlich anzuhören. Das Landgericht hätte das gesamte Videomaterial beiziehen müssen.

GG werde verletzt, da die Anwendung des allgemeinen Polizeirechts nicht möglich sei, solange eine Versammlung nicht aufgelöst oder einzelne Versammlungsteilnehmer ausgeschlossen seien. Die Einkesselung habe auch nicht auf eine Ermächtigungsgrundlage der Strafprozessordnung gestützt werden können. Die Polizei habe zu Zwecken der Gefahrenabwehr gehandelt. Im Übrigen habe kein Verdacht im Sinne des § 163b Abs. 1 StPO gegen den Versammlungsteilnehmer vorgelegen; dass er sich innerhalb der umschlossenen Gruppe aufgehalten habe, reiche dafür nicht aus.

Schließlich sei Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG verletzt, da die Einkesselung für den Versammlungsteilnehmer mit einer von 12:49 Uhr bis circa 17:30 Uhr andauernden Freiheitsentziehung verbunden gewesen sei. Für diese habe keine Ermächtigungsgrundlage existiert. Zudem sei der Richtervorbehalt des Art. 104 GG nicht beachtet worden.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorlägen. Die Verfassungsbeschwerde habe keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten den Versammlungsteilnehmer nicht in seinen Grundrechten.

Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Landgerichts, wonach die polizeiliche Abspaltung eines Teils der Versammlung und das kollektive Festhalten der hiervon betroffenen Versammlungsteilnehmer zum Zwecke der Strafverfolgung ihre Grundlage in §§ 163b, 163c StPO finden, weshalb eine rechtswidrige Freiheitsentziehung des Versammlungsteilnehmers nicht festzustellen sei, sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Versammlungsrecht „friedlich und ohne Waffen“[↑]

Die Verfassung gewährleistet lediglich das Recht, sich „friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. Das ist Vorbedingung für die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit als Mittel zur aktiven Teilnahme am politischen Prozess und für eine freiheitliche Demokratie unverzichtbar[5]. Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, dass eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, dann muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen[6].

Besteht danach für eine Versammlung trotz Ausschreitungen nur einer Minderheit der Teilnehmer der Schutz des Art. 8 GG fort, muss sich dies auf die Anwendung grundrechtsbeschränkender Rechtsnormen auswirken. Dies gilt insbesondere auch für die Anwendung des § 163b StPO und des § 163c StPO, wenn es zu Abspaltungen eines Teils der Versammlung vom restlichen Demonstrationszug kommt, um eine spätere Strafverfolgung zu ermöglichen. Zwar schließt es die unter Gesetzesvorbehalt stehende Versammlungsfreiheit nicht aus, gegen Teile der Versammlung repressive Maßnahmen der Strafverfolgung zu ergreifen. Bei solchen Grundrechtseingriffen haben die staatlichen Organe aber die grundrechtsbeschränkenden Normen der StPO im Lichte der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit im freiheitlich demokratischen Staat auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist[7].

Einkesseln zum Zwecke der Strafverfolgung[↑]

Konkret bedeutet dies für § 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO, wonach die Beamten des Polizeidienstes die zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen treffen dürfen, wenn jemand einer Straftat verdächtig ist, und der Verdächtige festgehalten werden darf, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann, dass der Verdacht auf einer hinreichenden objektiven Tatsachengrundlage beruhen sowie individuell bezogen auf den konkreten Versammlungsteilnehmer bestehen muss. Nicht genügend für den Verdacht ist die bloße Teilnahme an einer Versammlung, aus der heraus durch einzelne andere oder eine Minderheit Gewalttaten begangen werden[8]. Da sich Gewalttätigkeiten bei Großdemonstrationen kaum jemals ganz ausschließen lassen, träfe andernfalls nahezu jeden Versammlungsteilnehmer das Risiko, allein wegen des Gebrauchmachens von der Versammlungsfreiheit – schon während der Versammlung – Strafverfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden[9]. Die Notwendigkeit eines auf den konkreten Versammlungsteilnehmer bezogenen Verdachts schließt es allerdings nicht aus, auch gegen eine ganze Gruppe von Versammlungsteilnehmern nach § 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO vorzugehen, wenn sich aus deren Gesamtauftreten ein Verdacht auch gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Gruppe ergibt und das Vorgehen die übrigen Versammlungsteilnehmer so weit wie möglich ausspart.

Diesen Maßgaben werden die fachgerichtlichen Entscheidungen vorliegend gerecht. Zwar konnten weder das Amtsgericht noch das Landgericht feststellen, dass sich der Versammlungsteilnehmer unfriedlich verhalten hätte; der Entscheidung des Landgerichts ist auch nicht zu entnehmen, dass die Versammlung im Ganzen unfriedlich verlaufen wäre. Gleichwohl begegnet die Annahme der Fachgerichte, das Abspalten des Versammlungsteilnehmers als Teil einer Gruppe vom übrigen Versammlungsaufzug und sein Festhalten zur Identitätsfeststellung seien nach § 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO gerechtfertigt gewesen, da er als Teil der Gruppe einer Straftat verdächtig gewesen sei, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Dies gilt zunächst für die grundsätzliche Einstufung der Freiheitsentziehung als repressive Maßnahme zur Verfolgung von Straftaten. Angesichts des – mit der Verfassungsbeschwerde nicht angegriffenen – Verweisungsbeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs ist nicht ersichtlich, dass der fachgerichtliche Wertungsrahmen bei der Beurteilung der Maßnahmen der Polizei überschritten worden wäre.

Hinsichtlich der Wahrnehmung des Versammlungsteilnehmers als Verdächtigem im Sinne des § 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO begründen die Fachgerichte diese mit der Feststellung, der Versammlungsteilnehmer sei Teil einer Personengruppe gewesen, aus der heraus Straftaten begangen worden seien. Wie dabei aus den fachgerichtlichen Ausführungen und aus den Unterlagen folgt, die dem Bundesverfassungsgericht vorliegen, bildeten sich unmittelbar nach Aufzugsbeginn vor und hinter dem Lautsprecherwagen zwei Blöcke. Der Block vor dem Lautsprecherwagen führte seitlich Transparente mit, die in U-Form um den Block verliefen und mit Seilen und Fahnenstangen miteinander verbunden waren. Unter den Transparenten führte der Block Schutzschilde mit und baute einen Seitenschutz auf. Angehörige dieses Blocks trugen Schutzbrillen und selbstgefertigte Plastikvisiere. Aus dem Block wurden Regenschirme verteilt und geöffnet, so dass sich auch ein Sichtschutz nach oben ergab. Der Block hinter dem Lautsprecherwagen führte ebenfalls an beiden Seiten verbundene Transparente mit; diese so verbundenen Transparente wurden seitlich hochgehalten. Die Teilnehmer dieses Blocks waren komplett schwarz gekleidet, wobei der Umfang der Vermummung zunahm und ebenfalls Plastikvisiere getragen wurden. Beide Blöcke liefen dicht gestaffelt. Aus beiden Blöcken wurden Flaschen und Pyrotechnik auf die Einsatzkräfte geworfen. Im vorderen Block wurden Farbbeutel verteilt.

Geht die Polizei gegen eine sich dergestalt mittels dichtgedrängter Staffelung, Sichtschutz und Vermummung vom übrigen Versammlungsgeschehen abhebende Gruppe, aus der heraus eine Vielzahl von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten begangen werden, auf Grundlage des § 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO vor, da sie einen Anfangsverdacht gegen alle Mitglieder dieser Gruppe als begründet ansieht und bestätigen die Fachgerichte dieses Vorgehen, verstößt dies nicht gegen verfassungsrechtliche Vorgaben. Die zu diesem Teil des Aufzugs gehörenden Personen zeigen ein planvoll-systematisches Zusammenwirken mit einer Vielzahl von Gewalttätern und erwecken den Eindruck der Geschlossenheit, so dass die Einsatzkräfte davon ausgehen durften, dass Gewalttäter in ihren Entschlüssen und Taten gefordert und bestärkt würden und nur eine sehr geringe Zahl friedlicher Versammlungsteilnehmer durch die Einkesselung vom Rest der Versammlung ausgeschlossen und festgehalten werde. Dies ist verfassungsrechtlich hinnehmbar, wenn die Polizei – wie vorliegend – ohne Aufschub nach der Kesselbildung in Verhandlungen mit der Versammlungsleitung eintritt, um eine Fortsetzung des Aufzugs sowohl für den vom Polizeikessel betroffenen friedlichen Versammlungsteil als auch für einzelne friedliche Versammlungsteilnehmer innerhalb der eingeschlossenen Demonstrationsgruppe zu ermöglichen.

Vor dem Hintergrund des Art. 8 GG begegnet auch die fachgerichtliche Feststellung, ein Festhalten des Versammlungsteilnehmers sei allein bis zum Passieren einer der zum Zwecke der Identitätsfeststellung eingerichteten Video-Durchlassstellen und damit nicht länger als zur Feststellung der Identität unerlässlich erfolgt (§ 163c Abs. 1 Satz 1 StPO), angesichts der großen Zahl von Verdächtigen, der unverzüglichen Aufnahme von Verhandlungen mit der Versammlungsleitung zur Fortsetzung des Aufzugs, der sich daran unmittelbar anschließenden Einrichtung von 15 Video-Durchlassstellen, die die Feststellung der Identität von drei Personen pro Minute und noch vor Ort ermöglichten, sowie der Tatsache, dass Teile der von der polizeilichen Maßnahme betroffenen Gruppe durch erhebliche körperliche Widerstandshandlungen gegen die eingesetzten Polizeikräfte selbst zu einer Verlängerung der Gesamtdauer der durchgeführten Maßnahmen beigetragen haben, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

„Unverzügliche“ Vorführung vor den Richter[↑]

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen auch nicht Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG, indem sie gemäß § 163c Abs. 1 Satz 2 StPO davon ausgegangen sind, dass eine unverzügliche Vorführung vor den Richter zum Zwecke der Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung unterbleiben konnte, da die Herbeiführung der richterlichen Entscheidung voraussichtlich längere Zeit in Anspruch nehmen würde als zur Feststellung der Identität notwendig wäre.

Abs. 2 Satz 2 GG gebietet für jede nicht auf richterlicher Anordnung beruhende Freiheitsentziehung, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen, wobei „unverzüglich“ dahin auszulegen ist, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss[10]. Die Ausnahme von der Vorführpflicht nach § 163c Abs. 1 Satz 2 StPO für den Fall, dass bis zur Erlangung der richterlichen Entscheidung voraussichtlich längere Zeit vergeht als bis zur Feststellung der Identität, ist danach verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

So lagen die Dinge hier, da die Identitätsfeststellung noch vor Ort, unmittelbar im Anschluss an die gescheiterten Verhandlungen über eine Fortsetzung des Aufzugs und mittels 15 Durchlassstellen für 943 Personen erfolgte, das Verlassen des Kessels sich also unmittelbar an die Identitätsfeststellung anschloss. Unter diesen Umständen durfte von der Zulässigkeit einer Identitätsfeststellung vor Ergehen einer richterlichen Entscheidung ausgegangen werden.

Keine Beiziehung des polizeilichen Videomaterials[↑]

Die Fachgerichte haben auch nicht dadurch gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG verstoßen, dass sie es unterlassen haben, das polizeiliche Videomaterial beizuziehen.

Die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Freiheit der Person, gebieten es, im fachgerichtlichen Verfahren den entscheidungserheblichen Sachverhalt hinreichend aufzuklären[11]. Das gilt angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht[12].

Hier bewegt sich die Art und Weise sowie die Reichweite der Amtsermittlung in den Ausgangsverfahren innerhalb dieses fachgerichtlichen Wertungsrahmens. Sie war auch ausreichend, weil das Vorbringen des Versammlungsteilnehmers in den Ausgangsverfahren das Ergebnis der Amtsermittlung nicht in Zweifel gezogen hat. Nach der nicht zu beanstandenden Rechtsauffassung der Fachgerichte musste ein Verdacht im Sinne des § 163b Abs. 1 StPO gegen den Versammlungsteilnehmer nicht daran scheitern, dass dieser tatsächlich keine Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen hat. Ausreichend war insoweit bereits seine Zugehörigkeit zu einer sich vom übrigen Demonstrationsgeschehen deutlich abhebenden Gruppe, aus der heraus eine Vielzahl von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten begangen wurden.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht dadurch verletzt, dass die Gerichte das – für sie nicht entscheidungserhebliche – Videomaterial nicht beigezogen haben und dem Versammlungsteilnehmer insoweit auch keine Akteneinsicht gewähren konnten. Aus dem Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG lässt sich kein Anspruch auf Erweiterung des Akteninhalts herleiten[13].

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15

  1. AG Frankfurt a.M., Beschluss vom 24.09.2014 – 6140 Js 205098/14 – 931 Gs, 6140 Js 231112/14 – 931 Gs[]
  2. LG Frankfurt a.M., Beschluss vom 30.12.2014 – 5/31 Qs 29/14[]
  3. ca. 300 DVD[]
  4. LG Frankfurt a.M., Beschluss vom 27.01.2015 – 5/31 Qs 29/14[]
  5. vgl. BVerfGE 69, 315, 359 f.[]
  6. BVerfGE 69, 315, 361[]
  7. vgl. BVerfGE 69, 315, 349[]
  8. vgl. auch BGH, Urteil vom 24.01.1984 – VI ZR 37/82 33[]
  9. vgl. BVerfGE 69, 315, 361[]
  10. vgl. BVerfGE 105, 239, 249[]
  11. vgl. BVerfGE 83, 24, 33 f.[]
  12. vgl. BVerfGK 7, 87, 100[]
  13. vgl. BVerfGE 63, 45, 59 f.[]