Unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht – auf für türkische Staatsangehörige

Das abgeleitete Freizügigkeitsrecht, das ein drittstaatsangehöriger Elternteil eines Unionsbürgerkindes unter bestimmten Voraussetzungen aus Art. 21 Abs. 1 AEUV herleiten kann, setzt nicht voraus, dass diesem kein anderweitiges Aufenthaltsrecht zusteht. Insbesondere steht der Besitz eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts als türkischer Arbeitnehmer dem Erwerb oder Fortbestand des Freiheitszügigkeitsrechts nicht entgegen.

In dem hier vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschiedenen Fall hat ein türkischer Staatsangehöriger geklagt, der Vater eines 2011 geborenen Sohnes mit bulgarischer Staatsangehörigkeit ist. Er wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Freizügigkeitsrechts (§ 5 Abs. 4 Freizügigkeitsgesetz/EU). Diese war unter anderem damit begründet worden, dass er bereits ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses EWG-Türkei Nr. 1/80 (ARB 1/80) als Arbeitnehmer in ordnungsgemäßem Beschäftigungsverhältnis erworben habe, sodass der minderjährige Unionsbürger bei Versagung eines Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht von seinem Vater getrennt werde.

Seine Klage hatte in erster Instanz vor dem Verwaltungsgericht Augsburg keinen Erfolg[1]. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Verlustfeststellung hingegen aufgehoben[2]. Der Kläger besitze ein aus Art. 21 Abs. 1 AEUV folgendes Freizügigkeitsrecht, weil er tatsächlich die Sorge für einen minderjährigen Unionsbürger wahrnehme und diesem Unterhalt gewähre. Der Sohn sei trotz Bezugs von Sozialleistungen aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt, weil er inzwischen über seine Mutter ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe. Die Mutter erfülle die erforderlichen Zeiten als Arbeitnehmerin; sie habe diese Eigenschaft nicht durch eine vorübergehende Arbeitslosigkeit von 2 ¼ Jahren verloren. Dass sie wegen der lebensbedrohlichen Erkrankung ihres sehr kleinen Kindes und besonderen Betreuungserfordernissen während dieser Zeit nicht habe arbeiten können, sei der Erwerbsminderung wegen eigener Krankheit im Sinne von Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG und § 2 Abs. 3 FreizügG/EU gleichzustellen. Das Freizügigkeitsrecht des Klägers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV sei auch nicht dadurch entfallen, dass dieser aufgrund seiner mehr als vierjährigen Beschäftigung im Bundesgebiet im Juni 2019 die dritte Verfestigungsstufe des Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erreicht und damit ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben habe.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die hiergegen gerichtete Revision der Ausländerbehörde zurückgewiesen:

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe hat im Einklang mit Bundesrecht entschieden, dass der Kläger ein Aufenthaltsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erworben und im maßgeblichen Zeitpunkt noch besessen hat. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger auch über ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht als türkischer Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verfügen mag.

Für eine Nachrangigkeit der Freizügigkeitsrechte aus Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG gegenüber anderen unionsrechtlichen (oder nationalen) Aufenthaltsrechten bieten die einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen auch unter Berücksichtigung ihrer Systematik und Zielsetzung keine ernsthaften Anhaltspunkte. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass das Bestehen eines Aufenthaltsrechts aus abgeleitetem Unionsrecht lediglich einem Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV entgegensteht, nicht aber einem Aufenthaltsrecht aus Art. 21 AEUV, das den Freizügigkeitsrechten nach der Richtlinie 2004/38/EG gleichsteht. Abgeleitetes Unionsrecht in diesem Sinne sind auch die Beschlüsse des Assoziationsrats EWG-Türkei.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 13. Juni 2024 – 1 C 5.23

  1. VG Augsburg, Urteil vom 17.06.2020 – Au 6 K 18.116 und Au 6 K 18.395[]
  2. BayVGH, Urteil vom 16.11.2022 – 10 B 20.2616[]