Kostenfreier ÖPNV auch für Hilfe zur Pflege beziehende gehbehinderte Heimbewohner

Hilfe zur Pflege beziehende Heimbewohner, die infolge ihrer Schwerbehinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, haben Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im ÖPNV.

In dem aktuell vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall erfüllte die 1940 geborene und in einem Pflegeheim wohnende Heimbewohnerin wegen ihrer Schwerbehinderung und der Zuerkennung des Merkzeichens G die Grundvoraussetzungen für die unentgeltliche Beförderung im ÖPNV. Durch eigenes Einkommen verfügte sie zwar über hinreichende Mittel, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Heimkosten zahlte jedoch nach Anrechnung des noch verbleibenden aber unzureichenden Einkommens der Sozialhilfeträger. Die Heimbewohnerin verwendete die ihr noch verfügbaren Eigenmittel zur Beschaffung der ein Jahr gültigen Wertmarke in Höhe von 91 €, die ihr nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts nunmehr vom Land Niedersachsen zu erstatten sind.

Das Sozialgericht Braunschweig hat das Land Niedersachsen verurteilt, der Heimbewohnerin die Kosten für die Erteilung der Wertmarke zu erstatten. Auf die Berufung des Landes Niedersachsen hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Heimbewohnerin habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung. Sie gehöre nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis. Im streitgegenständlichen Zeitraum habe die Heimbewohnerin keinen Anspruch auf laufende Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII gehabt. Vielmehr habe sie ausschließlich Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII bezogen. Die Befreiungsregelung erfasse jedoch den Bezug dieser Sozialhilfeleistung nicht. Mit ihr habe der Gesetzgeber nur Personen begünstigen wollen, die laufende Sozialhilfeleistungen zur Deckung ihres notwendigen Lebensunterhalts erhielten. Darin liege weder ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. 

Anders als erstinstanzlich das Sozialgericht Braunschweig[1] hatte das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen die Klage abgewiesen: Die Heimbewohnerin gehöre nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis. Denn sie habe keinen Anspruch auf laufende Sozialhilfeleistungen für den Lebensunterhalt. Allein der Bezug von Hilfe zur Pflege genüge nicht[2]. Im streitgegenständlichen Zeitraum habe die Heimbewohnerin keinen Anspruch auf laufende Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII gehabt. Vielmehr habe sie ausschließlich Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII bezogen. Die Befreiungsregelung erfasse jedoch den Bezug dieser Sozialhilfeleistung nicht. Mit ihr habe der Gesetzgeber nur Personen begünstigen wollen, die laufende Sozialhilfeleistungen zur Deckung ihres notwendigen Lebensunterhalts erhielten. Darin liege weder ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. 

Dies sah das Bundessozialgericht nun anders und gab der Heimbewohnerin recht:

Zwar erfasst der Befreiungstatbestand des § 228 Absatz 4 Nummer 2 SGB IX seinem Wortlaut nach unter anderem nur Bezieher von den Lebensunterhalt sichernden laufenden Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch. Trotzdem genügt als Anspruchsvoraussetzung über den Wortlaut hinaus auch der Erhalt von Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII, jedenfalls soweit Anspruch auf Hilfe zur Pflege in einem Alten- und Pflegeheim besteht. Dies folgt aus einer analogen Anwendung der Norm auf hilfebedürftige Heimbewohner, die durch den Bezug von Hilfe zur Pflege dem Existenzsicherungssystem der Sozialhilfe zugehörig sind. Durch den Systemwechsel vom Bundessozialhilfegesetz zum SGB XII im Jahr 2005 ist insoweit eine planwidrige Regelungslücke im SGB IX entstanden, indem die lediglich Hilfe zur Pflege beziehenden Heimbewohner aus dem Befreiungstatbestand herausgefallen sind, ohne dass ersichtlich ist, dass diese Rechtsfolge vom Gesetzgeber beabsichtigt war. Ein sachlicher Grund für den Ausschluss dieser hilfebedürftigen Heimbewohner erschließt sich nicht.

Bundessozialgericht, Urteil vom 19. September 2024 – B 9 SB 2/23 R

  1. SG Braunschweig, Urteil vom 24.06.2022 – S 8 SB 392/21[]
  2. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28.09.2023 – L 10 SB 107/22[]