Der Bundestag – und seine verhinderten rechten Ausschussvorsitzenden

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, der darauf gerichtet war, die von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig als Vorsitzende mehrerer Ausschüsse im Deutschen Bundestag einzusetzen.

Nachdem sich die Fraktionen des 20. Deutschen Bundestages zu Beginn der Wahlperiode im Ältestenrat nicht auf die Verteilung der Ausschussvorsitze verständigen konnten, wurden diese unter den Fraktionen im sogenannten Zugriffsverfahren verteilt. Die AfD-Fraktion griff im Rahmen dieses Verfahrens auf die Vorsitze der Ausschüsse für Inneres und Heimat, Gesundheit sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu. In den konstituierenden Sitzungen dieser Ausschüsse am 15. Dezember 2021 schlug die AfD-Fraktion jeweils einen Kandidaten für die Ausschussvorsitze vor. Auf Antrag der Regierungsfraktionen wurden daraufhin in den drei Ausschüssen geheime Wahlen zur Bestimmung der Ausschussvorsitzenden durchgeführt, bei denen keiner der von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten die erforderliche Mehrheit erhielt. Auch in den Sitzungen der Ausschüsse am 12. Januar 2022 verfehlten die Kandidaten der AfD-Fraktion bei erneuten geheimen Wahlen die erforderlichen Mehrheiten. Aktuell werden die Ausschüsse von den stellvertretenden Vorsitzenden geleitet.

Die AfD-Fraktion wendet sich in der Hauptsache im Wege des Organstreits gegen die Durchführung von Wahlen zur Bestimmung der Vorsitzenden der betroffenen Ausschüsse. Im Wege der einstweiligen Anordnung begehrt die AfD-Fraktion, die von ihr benannten Kandidaten vorläufig als Ausschussvorsitzende einzusetzen. Durch die „Veranstaltung einer ungebundenen Mehrheitswahl“ zur Besetzung der ihr zustehenden Ausschussvorsitze sieht sie sich in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Gleichbehandlung und auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT) sowie in einem aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG, folgenden Recht auf effektive Opposition verletzt.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hatte vor dem Bundesverfassungsgericht in der Sache keinen Erfolg:

Zwar ist der Antrag in der Hauptsache weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere erscheint eine Verletzung der von der AfD-Fraktion geltend gemachten organschaftlichen Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht von vornherein völlig ausgeschlossen.

Die AfD-Fraktion ist als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung sich – ebenso wie der Status der Abgeordneten – aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ableitet. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das Recht auf gleichberechtigte Mitwirkung der Abgeordneten beziehungsweise ihrer Zusammenschlüsse auch den Zugang zu einem Leitungsamt wie dem Ausschussvorsitz erfasst. Gemäß § 12 GO-BT, nach dem die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen ist, stehen der AfD-Fraktion drei Vorsitzendenpositionen auch grundsätzlich zu.

Im Hauptsacheverfahren wird zu klären sein, ob § 58 GO-BT, wonach die Ausschüsse ihre Vorsitzenden bestimmen, eine freie Wahl der Ausschussvorsitze zulässt, ob hiermit eine Beeinträchtigung von Rechtspositionen der AfD-Fraktion aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verbunden sein kann und ob eine solche im Hinblick auf den Zweck der Wahl zulässig wäre. Vor diesem Hintergrund kommt es an dieser Stelle nicht mehr darauf an, ob darüber hinaus auch eine Verletzung der behaupteten Rechte der AfD-Fraktion auf effektive Opposition sowie auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung in Betracht kommt.

Die wegen des offenen Verfahrensausgangs zu treffende Folgenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags.

Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Durchführung freier Wahlen für das Amt des Ausschussvorsitzes jedoch als verfassungswidrig, würden die drei derzeit vakanten, nach der Geschäftsordnung der AfD-Fraktion zustehenden Ausschussvorsitze bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens voraussichtlich nicht mit den von ihr benannten Kandidaten besetzt.

Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass die AfD-Fraktion durch die einstweilige Vorenthaltung der Ausschussvorsitze daran gehindert wäre, an der politisch-parlamentarischen Willensbildung im engeren Sinn in den betroffenen Ausschüssen mitzuwirken. Nach den Vorschriften der Geschäftsordnung sind mit dem Amt des Ausschussvorsitzes insbesondere Geschäftsleitungs- und Organisationsbefugnisse verbunden, die durch weitgehende Kontroll- und Korrekturrechte der Ausschussmitglieder begrenzt sind (vgl. §§ 59 – 61 GO-BT). Auch ohne dieses Funktionsamt mit entsprechend eingeschränktem Handlungsspielraum kann die AfD-Fraktion durch ihre Mitglieder in den drei betroffenen Ausschüssen ihr Recht auf Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Deutschen Bundestages in vollem Umfang wahrnehmen. Eigenständige parlamentarische Kontrollrechte sind mit dem Ausschussvorsitz nicht verbunden.

Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Nichtwahl der von der AfD-Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten für den Ausschussvorsitz als verfassungsgemäß, würden die drei betroffenen Ausschüsse bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens jeweils von einer Person geleitet, die das Vertrauen der Ausschussmehrheit offensichtlich nicht besitzt. Das könnte die Arbeitsfähigkeit dieser Ausschüsse gefährden, weil das fehlende Vertrauen des jeweiligen Ausschusses in den Vorsitz eine erhebliche Einschränkung der Ausschussarbeit zur Folge haben kann, nicht zuletzt durch die sich aus der Geschäftsordnung ergebenden Möglichkeiten der Ausschussmehrheit, Leitungshandlungen des Vorsitzenden zu konterkarieren. Dabei ist nicht auszuschließen, dass sich eine solche Beeinträchtigung der Arbeit der betroffenen Ausschüsse wegen ihrer unverzichtbaren Vorarbeit für das Plenum auch auf die Funktionsfähigkeit des Bundestages insgesamt auswirken kann.

Zudem griffe eine vorläufige Einsetzung von Ausschussvorsitzenden durch das Bundesverfassungsgericht schwerwiegend in die von Art. 40 Abs. 1 GG garantierte Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages ein. Hierzu ist das Bundesverfassungsgericht im Eilverfahren nur unter sehr strengen Voraussetzungen befugt.

Schließlich beeinträchtigte die Einsetzung der von der AfD-Fraktion benannten Kandidaten als Ausschussvorsitzende das durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte freie Mandat der Mehrheit der Ausschussmitglieder, das auch ihr Recht auf Beteiligung an den im Parlament stattfindenden Abstimmungen umfasst. Die begehrte einstweilige Anordnung widerspräche damit dem im Wahlergebnis zum Ausdruck gekommenen Mehrheitswillen des jeweiligen Ausschusses.

Nach alledem liegen aufseiten der AfD-Fraktion keine überwiegenden Umstände vor, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung als dringend geboten erscheinen lassen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. Mai 2022 – 2 BvE 10/21