Das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe

Das Bundesverfassungsgericht hat Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (SokaSiG) nicht zur Entscheidung angenommen. Der Gesetzgeber habe mit dem SokaSiG nicht das Rückwirkungsverbot verletzt, da die betroffenen Unternehmen nach Ansicht der Verfassungsrichter nicht darauf vertrauen konnten, keine Beiträge zu den Sozialkassen leisten zu müssen.

Die Sozialkassen im Baugewerbe beruhen auf Tarifverträgen, die regelmäßig durch das zuständige Bundesministerium für allgemeinverbindlich erklärt worden sind und damit auch für Unternehmen galten, die als sogenannte „Außenseiter“ sonst nicht tarifgebunden waren. Das Bundesarbeitsgericht hatte diese Allgemeinverbindlicherklärungen 2016 und 2017 für unwirksam erachtet. Darauf reagierte der Gesetzgeber mit dem Sozialkassensicherungsgesetz; es ordnet Tarifnormen dieser Tarifverträge für Zeiträume ab 2006 nun kraft Gesetzes verbindlich an. Die Beschwerdeführenden hielten dies für verfassungswidrig, da insbesondere eine verfassungsrechtlich unzulässige „echte Rückwirkung“ vorliege. Dem hat sich die Kammer nicht angeschlossen. Das Gesetz ordnet zwar Rechtsfolgen für Sachverhalte an, die in der Vergangenheit liegen. Doch ist dies hier verfassungsrechtlich ausnahmsweise gerechtfertigt. Die Beteiligten konnten hier nicht darauf vertrauen, keine Beiträge zu den Sozialkassen leisten zu müssen, denn die damaligen Allgemeinverbindlicherklärungen hatten den Rechtsschein der Wirksamkeit entfaltet. Der Gesetzgeber durfte die entsprechende Bindung daher rückwirkend wiederherstellen.

Mit dem Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (SokaSiG) stellte der Gesetzgeber rückwirkend die Rechtslage wieder her, die bis zu Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zur Allgemeinverbindlichkeit der zugrundeliegenden Tarifverträge galt. Die Tarifverträge zu Berufsbildung, Altersversorgung sowie Urlaub zwischen den Arbeitgeberverbänden Zentralverband des Deutschen Baugewerbes und Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt – IG BAU – sehen speziell für die Baubranche zusätzliche Leistungen für die Beschäftigten vor. Sie werden von den Sozialkassen des Baugewerbes erbracht, die durch Pflichtbeiträge der Arbeitgeber finanziert werden. Der maßgebliche Tarifvertrag VTV wurde in der Vergangenheit regelmäßig gemäß § 5 des Tarifvertragsgesetzes vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt. Damit sollte er nicht nur für Angehörige der tarifschließenden Verbände, sondern für alle, die in den Geltungsbereich der Tarifverträge fallen, gelten. Deshalb leisteten jahrelang auch nicht verbandsangehörige Unternehmen als sogenannte „Außenseiter“ Beiträge zu den Sozialkassen.

2016 und 2017 erklärte das Bundesarbeitsgericht die Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV aus den Jahren 2008, 2010, 2012, 2013 und 2014 für unwirksam. Die dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschlüssen vom 10. Januar 2020 nicht zur Entscheidung angenommen[1]. Im Anschluss an die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts stellten sich zahlreiche nicht verbandsangehörige Unternehmen auf den Standpunkt, für die betroffenen Zeiträume habe keine Verpflichtung zur Leistung von Sozialkassenbeiträgen bestanden.

Der Gesetzgeber reagierte darauf mit dem hier angegriffenen Gesetz. Er wollte eine Rechtsgrundlage dafür schaffen, noch ausstehende Sozialkassenbeiträge einzuziehen und bereits erhaltene Beiträge nicht zurückzahlen zu müssen. Das Gesetz trat am 25. Mai 2017 in Kraft und ordnet für Zeiträume ab 2006 die Sozialkassentarifverträge nun kraft Gesetzes verbindlich an. In Bezug genommen sind sämtliche Bestimmungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe einschließlich der Beitragspflicht.

Die Verfassungsbeschwerden machen dagegen geltend, dass die Regelungen des SokaSiG die Grundrechte auf unternehmerische Freiheit aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG, die Koalitionsfreiheit sowie das Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzten. Das Gesetz entfalte eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung. Ein anerkannter Ausnahmefall, in dem das zu rechtfertigen wäre, liege nicht vor.

Die mit den Verfassungsbeschwerden erhobenen Rügen greifen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht durch:

Das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot. Nach den hier in Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG mit Blick auf die unternehmerische Freiheit in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sind der Rückwirkung von Gesetzen verfassungsrechtlich Grenzen gesetzt. Normen mit echter Rückwirkung sind verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig. Das Sozialkassensicherungsgesetz ordnet eine solche echte Rückwirkung an, weil es Arbeitgeber, die nicht kraft Verbandsmitgliedschaft tarifgebunden sind, mit Beitragspflichten für zurückliegende Zeiträume belastet.

Diese Rückwirkung ist aber ausnahmsweise verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Den Allgemeinverbindlicherklärungen, die das Gesetz ersetzt, kam vor den Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts der Rechtsschein der Wirksamkeit zu. Dieser wirkt nicht nur zugunsten derjenigen, die eine Norm bindet, sondern hier auch zu ihren Lasten. Auch eine ungewisse, sich später als richtig herausstellende Ansicht, eine Norm sei ungültig, entbindet nicht davon, zu berücksichtigen, dass die angewandte Norm weiterhin gültig sein kann. Daher konnten die Betroffenen nicht darauf vertrauen, dass die Allgemeinverbindlicherklärungen unwirksam sind und sie keine Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes leisten müssten. Der Gesetzgeber konnte folglich rückwirkend eine „Reparaturgesetzgebung“ in Kraft setzen, deren Belastungen dem entsprechen, was nach Maßgabe des korrigierten Rechts ohnehin als geltend unterstellt werden musste. Den Grundrechtsberechtigten wird damit durch die Rückwirkung nichts zugemutet, womit sie nicht ohnehin schon zu rechnen hatten. Insoweit haben die Verfassungsbeschwerden nicht aufgezeigt, dass mit dem angegriffenen Gesetz neue und eigenständige Belastungen einhergingen.

Das SokaSiG verstößt auch nicht gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere bestehen keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Gesetzgeber von der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit des Sozialkassensicherungsgesetzes ausgegangen ist. Ihm kommt dazu ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum zu, der hier nicht überschritten wurde.

Auch soweit die Beschwerdeführenden die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) sowie ihr Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG als verletzt ansehen, hatten die Rügen keinen Erfolg. Die Geltung des Gesetzes nur für die Baubranche erklärt sich schon daraus, dass nur die Allgemeinverbindlichkeit dieser tarifvertraglichen Regelungen für unwirksam erklärt worden war. Zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber die Allgemeinverbindlichkeit im Übrigen auch für die anderen Branchen mit dem Gesetz zur Sicherung der tarifvertraglichen Sozialkassenverfahren vom 1. September 2017 („SokaSiG II“) geregelt.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. August 2020 – 1 BvR 2654/17

  1. BVerfG, Beschlüsse vom 10.01.2020 – 1 BvR 4/17, 1 BvR 593/17, 1 BvR 1104/17, 1 BvR 1459/17[]