Verena Becker und der Fall Buback

Der Staatsschutzsenat (6. Strafsenat) des Oberlandesgerichts Stuttgart hat am 97. Verhandlungstag die frühere RAF-Angehörige Verena Becker wegen Beihilfe zum Mord in drei tateinheitlichen Fällen zu der Freiheitstrafe von 4 Jahren verurteilt. Im Rahmen eines Härteausgleichs hat das Oberlandesgericht für entgangene Gesamtstrafenbildung eine Anrechnung von 2 Jahren 6 Monaten der verhängten Strafe als verbüßt vorgenommen.

Dass Verena Becker an eigentlichen Tatvorbereitungshandlungen für das Attentat vom 7. April 1977 in Karlsruhe an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und dessen Begleitern Wolfgang Göbel und Georg Wurster (wie z. B. an Fahrzeugbeschaffungen bzw. der Ausspähung des späteren Tatorts) oder an der Tatausführung selbst beteiligt war, konnte vom Oberlandesgericht Stuttgart nicht festgestellt werden.

Das OLG betonte, dass in den Erkenntnissen aus dem Verfahren keinerlei Basis für die Thesen zu finden war, eine „schützende Hand“ habe Verena Becker vor Strafverfolgung wegen des Attentats vom 7. April 1977 bewahrt oder die Angeklagte habe die Tat unter den Augen des Verfassungsschutzes begangen, dieser habe sie gar zur Tat verleitet.

Weiter führte das Gericht in seiner Urteilsbegründung aus, dass zwar grundsätzlich die historische Wahrheit deckungsgleich mit der Wahrheit der Erkenntnisse eines Strafverfahrens zu sein hätte. Es könne nicht verschiedene Wahrheiten oder Wahrheitsgrade geben. Die Wahrheit in einem Strafverfahren müsse aber manchmal zurückbleiben, weil die Beweise trotz Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nicht ausreichen oder auch der Grundsatz im Zweifel für einen Angeklagten zur Anwendung kommen muss. Hierin liegen die Grenzen eines an den Grund- und Menschenrechten orientierten Strafverfahrens.

Verena Becker wurde in der vom Oberlandesgericht Stuttgart unverändert zugelassenen Anklage die mittäterschaftliche Beteiligung an dem Anschlag auf den früheren Generalbundesanwalts Buback vorgeworfen, bei dem am 7. April 1977 in Karlsruhe neben Siegfried Buback auch dessen Begleiter Wolfgang Göbel und Georg Wurster durch ein „Kommando Ulrike Meinhof“ der „Rote Armee Fraktion (RAF)“ erschossen wurden. Die Täter konnten unerkannt entkommen; die RAF bekannte sich zu dem Anschlag. Am 3. Mai 1977 wurde im Zuge der Festnahme Verena Beckers und des (früheren) RAF-Mitglieds Günter Sonnenberg in Singen das beim Karlsruher Anschlag verwendete Selbstladegewehr sichergestellt, nachdem die Genannten zuvor mit anderen Schusswaffen bei einer Personenkontrolle in Tötungsabsicht auf Polizeibeamte geschossen und diese dadurch teils schwer verletzt hatten.

In zeitnaher Folge wurden jeweils als Mittäter Knut Folkerts, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar für den Anschlag vom 7. April 1977 verurteilt, Festlegungen zur Person, welche die Schüsse auf die drei Getöteten abgegeben hat, erfolgten nicht. Das wegen dieses Attentats zunächst auch gegen Verena Becker geführte Ermittlungsverfahren wurde im Jahr 1980 mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt, nachdem sie wegen des Vorfalls in Singen verurteilt worden war. Die Strafvollstreckung endete 1989 durch Gnadenerweis des Bundespräsidenten; die Reststrafe wurde nach fünfjähriger Bewährungszeit erlassen.

Das Oberlandesgericht Stuttgart war nach der umfangreichen Beweisaufnahme überzeugt, dass die Angeklagte der im Sommer 1976 neu konstituierten RAF-Gruppe, der sog. zweiten Generation der RAF, angehörte, aus der heraus das Karlsruher Attentat begangen wurde. In einem jemenitischen Ausbildungslager sowie bei nachfolgenden Treffen der Gesamtgruppe in Deutschland und den Niederlanden Anfang 1977 war dieser Anschlag im Beisein der späteren Täter beschlossen worden. Die Angeklagte hat sich stets, zuletzt bei dem Gruppentreffen in den Niederlanden, auch den späteren Tätern gegenüber vehement für die alsbaldige Durchführung des Anschlags auf Generalbundesanwalt Buback eingesetzt und dadurch die unmittelbaren Täter wissentlich und willentlich in ihrem Tatentschluss bestärkt. Verena Becker gehörte zu den Führungspersonen der damaligen RAF. Nach dem Attentat beteiligte sie sich am Versand der Bekennerschreiben und der Beseitigung der Tatwaffe. Das Oberlandesgericht hat ihren Tatbeitrag als psychische Beihilfe zum Mord in drei Fällen gewürdigt.

Prozessbeginn war am 30. September 2010. Wegen der gesundheitlichen Gegebenheiten der auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten konnte die Verhandlung nur zeitlich gestreckt geführt werden. Insgesamt 165 Zeugen und 8 Sachverständige wurden gehört, eine Vielzahl von Dokumenten aus über 70 Stehordnern mit etwa 25.000 Seiten – teils aus Bundes- und Landesarchiven – wurde verlesen. Zu Beginn der Urteilsverkündung dankte der Vorsitzende allen Beteiligten für die Verhandlungsatmosphäre. Alle Verfahrensbeteiligten wirkten – von wenigen Momenten abgesehen – sachlich und mit gegenseitigem Respekt mit, so dass sich das Verfahren voll auf seine strafprozessualen Ziele konzentrieren konnte. Dies sei – so Wieland – durchaus nicht selbstverständlich.

Das Strafverfahren war auch wegen der lange zurückliegenden Tat und den dadurch bedingten Beweisschwierigkeiten außergewöhnlich. Der Versuch des Oberlandesgerichts Stuttgart, bereits verurteilte frühere RAF-Mitglieder, die ihre Strafen verbüßt haben und von denen einige sicherlich zur Tataufklärung hätten beitragen können, als Zeugen zu Angaben zu veranlassen, blieb weitgehend ohne Erfolg, da regelmäßig von bestehenden Auskunftsverweigerungsrechten Gebrauch gemacht wurde.

Für die behauptete Verstrickung des Verfassungsschutzes und/oder anderer staatlicher Stellen in die Geschehnisse des Anschlages oder manipulative Eingriffe in die Ermittlungen ergaben sich keine tragfähigen Hinweise. Festzustellen war, dass der Verfassungsschutz im Zeitraum der Anschläge 1977 keinen Zugang zur Tätergruppe hatte und ein Kontakt zu Verena Becker erst 1981 bestand.

Für die vom Nebenkläger Prof. Dr. Michael Buback immer wieder publizierten massiven Ermittlungspannen oder -manipulationen ergaben sich gleichfalls aus der Beweisaufnahme keine Hinweise. Diese Vorwürfe sind so nicht haltbar.

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat bei der Strafzumessung berücksichtigt, dass die Angeklagte eine „lebenslange Freiheitsstrafe“ bereits verbüßt hat bzw. diese als vollstreckt gilt. Bei zeitnaher Verurteilung Verena Beckers wegen ihrer Beteiligung am Karlsruher Anschlag hätte nach heutiger Rechtslage für alle Taten insgesamt eine lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe festgesetzt werden müssen. Da dies nicht mehr möglich ist, hat der Senat einen sog. Härteausgleich durchgeführt.

Rein rechnerisch erreicht Verena Becker damit die 2/3-Grenze des § 57 Abs. 1 StGB nach 2 Monaten

Oberlandesgericht Stuttgart, Urteil vom 6. Juli 2012 – 6-2 StE 2/10