Subsidiärer Schutz – und das vollständige Prüfungsprogramm

Wird bei den zuständigen Behörden eines EU-Staates subsidiärer Schutz beantragt, müssen sie zur Feststellung des Grades der Intensität eines bewaffneten Konflikts sämtliche relevanten Umstände prüfen, die die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnen.  Wenden diese Behörden dagegen systematisch nur ein einziges quantitatives Kriterium wie eine Mindestzahl ziviler Opfer an, könnten ungerechtfertigterweise Personen ausgeschlossen werden, die tatsächlich Schutz benötigen. Mit dieser Entscheidung dürfte der Gerichtshof der Europäischen Union der derzeitigen deutschen Praxis ein Ende bereitet haben.

Dem zugrunde lag der Fall von zwei aus der afghanischen Provinz Nangarhar stammende afghanische Zivilpersonen, die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asyl beantragt hatten. In dem Klageverfahren, dass sich der Ablehnung ihrer Asylanträge anschloss, stritten sie mit dem BAMF u.a. noch um die Gewährung subsidiären Schutzes. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ersuchte daraufhin den Gerichtshof der Europäischen Union um Klarstellungen zur Auslegung der „Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“[1].

Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht aber über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bliebt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, im Anschluss an das Urteil des Unionsgerichtshofs über die Rechtssache im Einklang mit dessen Entscheidung zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

Hier legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtsfrage vor, nach welchen Kriterien die Gewährung subsidiären Schutzes in Fällen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge „willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“ erfolgen müsse.

Der Unionsgerichtshof hatte noch keine Gelegenheit, zu dieser Frage ausdrücklich Stellung zu nehmen. Zudem ist die Rechtsprechung auf diesem Gebiet uneinheitlich. Während teilweise eine umfassende Beurteilung auf Grundlage aller Umstände des Einzelfalls vorgenommen wird, stellen andere Ansätze, wie in Deutschland, primär auf die Zahl ziviler Opfer ab.

Nach den Angaben des Verwaltungsgerichtshofs in seinem Vorlagebeschluss setzt die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung nach dem nationalen Recht zwingend eine quantitative Ermittlung des „Tötungs- und Verletzungsrisikos“ voraus, ausgedrückt durch das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets. Das Ergebnis müsse zwingend einen bestimmten Mindestwert erreichen. Werde dieser nicht erreicht, bedürfe es keiner weiteren Ermittlungen zur Gefahrendichte. In diesem konkreten Fall könne eine umfassende Beurteilung der besonderen Umstände des Einzelfalls nicht zur Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung führen.

Auf Grundlage einer umfassenden Beurteilung unter Berücksichtigung auch anderer gefahrbegründender Umstände müsse jedoch das in der Provinz Nangarhar gegenwärtig herrschende Gewaltniveau als derart hoch angesehen werden, dass die beiden hier klagenden afghanischen Flüchtlinge, denen interner Schutz nicht zur Verfügung stehe, allein aufgrund ihrer Anwesenheit in diesem Gebiet ernsthaft bedroht wären. Wenn hingegen die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung maßgeblich von der Zahl ziviler Opfer abhinge, müssten ihre Anträge auf subsidiären Schutz zurückgewiesen werden.

In seinem jetzt verkündeten Urteil entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union, dass eine nationale Regelung, wonach die Feststellung einer „ernsthaften individuellen Bedrohung“ davon abhängig ist, dass das Verhältnis der Zahl ziviler Opfer zur Gesamtzahl der Bevölkerung des betreffenden Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht, in Fällen, in denen eine Zivilperson nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, nicht mit der Richtlinie 2011/95 über den internationalen Schutz von Flüchtlingen vereinbar ist.

Der Unionsgerichtshof weist zunächst darauf hin, dass eines der Ziele der Richtlinie 2011/95 darin besteht, zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen. Der in dieser Richtlinie vorgesehene subsidiäre Schutzstatus ist grundsätzlich allen Drittstaatsangehörigen bzw. allen Staatenlosen zu gewähren, die bei ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland oder in das Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr laufen, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.

Der Unionsgerichtshof führt sodann aus, dass die Feststellung einer „ernsthaften individuellen Bedrohung“ im Sinne der Richtlinie 2011/95 über den internationalen Schutz von Flüchtlingen nicht voraussetzt, dass die den subsidiären Schutz beantragende Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Das Adjektiv „individuell“ ist nämlich dahin zu verstehen, dass es sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein.

Der Unionsgerichtshof stellt daher erstens fest, dass das quantitative Kriterium der Zahl der Opfer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der betroffenen Region im Widerspruch zu den Zielen der Richtlinie 2011/95 über den internationalen Schutz von Flüchtlingen  sowie insbesondere zur Notwendigkeit steht, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen. Die systematische Anwendung eines einzigen quantitativen Kriteriums durch einen Mitgliedstaat, wie etwa eine Mindestzahl an Opfern, kann dazu führen, dass die Behörden die Gewährung internationalen Schutzes unter Verstoß gegen die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Bestimmung der Personen, die diesen Schutz tatsächlich benötigen, verweigern.

Zweitens wäre eine solche Auslegung geeignet, Personen, die internationalen Schutz beantragen, zu veranlassen, sich in Mitgliedstaaten zu begeben, die das Kriterium einer bestimmten Schwelle hinsichtlich der bereits festgestellten Opfer nicht anwenden oder diesbezüglich eine niedrigere Schwelle heranziehen. Das könnte eine Praxis des forum shopping begünstigen, die darauf abzielt, die durch die Richtlinie 2011/95 über den internationalen Schutz von Flüchtlingen aufgestellten Regeln zu umgehen. Nach dem Wortlaut der Richtlinie sollte jedoch die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Zuerkennung und den Inhalt der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes insbesondere dazu beitragen, die Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwischen Mitgliedstaaten einzudämmen, soweit sie ausschließlich auf unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften beruht.

Darüber hinaus entschied der Unionsgerichtshof, dass der Begriff „ernsthafte individuelle Bedrohung“ des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die subsidiären Schutz beantragt, weit auszulegen ist. Daher ist eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnen, erforderlich.

Dazu gehören nach der Richtlinie 2011/95 über den internationalen Schutz von Flüchtlingen unter anderem alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind. Konkret können auch die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren berücksichtigt werden, die bei der Beurteilung der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu berücksichtigen sind, ebenso wie andere Gesichtspunkte, etwa das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt.

Folglich steht es im Widerspruch zu den Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 über den internationalen Schutz von Flüchtlingen, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats zur Feststellung des Grades der Intensität eines bewaffneten Konflikts ohne Prüfung sämtlicher relevanten Umstände, die die Situation des Herkunftslands der den subsidiären Schutz beantragenden Person kennzeichnen, systematisch ein Kriterium wie die Mindestzahl ziviler Opfer (Verletzte oder Tote) anwenden, da dies dazu führen kann, dass die betreffenden Behörden unter Verstoß gegen die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Bestimmung der Personen, die tatsächlich subsidiären Schutz benötigen, die Gewährung dieses Schutzes verweigern.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 10. Juni 2021 – C -901/19

  1. ABl. 2011, L 337, S. 9, Berichtigung ABl. 2017, L 167, S. 58[]