Keine "Rohmessdaten" bei der Geschwindigkeitsmessung

Vor dem Bundesverfassungsgericht ist eine  Verfassungsbeschwerde wegen fehlender „Rohmessdaten“ bei der Geschwindigkeitsmessung ohne Erfolg geblieben. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde, mit der sich ein Autofahrer gegen die gerichtliche Festsetzung eines Bußgeldes wegen einer vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung wendet, nicht zur Entscheidung angenommen.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts wurde die Geschwindigkeitsmessung mit Hilfe des von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) zugelassenen mobilen Geschwindigkeitsmessgeräts des Typs Leivtec XV3 durchgeführt. Der Autofahrer sieht sich insbesondere in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) folgenden Recht auf ein faires Verfahren verletzt, weil das eingesetzte Messgerät keine sogenannten „Rohmessdaten“ speichere und damit im Bußgeldverfahren ein nicht überprüfbares Geschwindigkeitsmessergebnis verwertet worden sei.

Die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig, entschied das Bundesverfassungsgericht, weil der Autofahrer eine Grundrechtsverletzung nicht hinreichend substantiiert dargelegt habe:

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Betroffene in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren grundsätzlich einen Anspruch auf Zugang auch zu bei der Bußgeldbehörde vorhandenen, aber nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen. Der Autofahrer meint jedoch, der aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierende Gedanke der Waffengleichheit gebiete es darüber hinaus, dass die zuständigen Behörden nur Geräte einsetzen, die sogenannte „Rohmessdaten“ erheben. Er legt insofern aber nicht substantiiert dar, dass aus dem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf ein faires Verfahren auch eine staatliche Pflicht folgt, potentielle Beweismittel zur Wahrung von Verteidigungsrechten vorzuhalten beziehungsweise zu schaffen.

Mit zwei weiteren Beschlüssen hat das Bundesverfassungsgericht zugleich noch zwei ähnlich gelagerte Fälle entschieden, in denen Geschwindigkeitsmessgeräte der Typen PoliScan M1 HP[1] und TraffiStar S350[2] zum Einsatz kamen.

Der Ausgangssachverhalt

Mit Bußgeldbescheid vom 26.03.2019 wurde gegen den Autofahrer wegen einer vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße festgesetzt. Hiergegen legte der Autofahrer Einspruch ein und beantragte gegenüber dem zuständigen Amtsgericht unter anderem die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass bei dem zum Einsatz gekommenen Messgerät des Typs Leivtec XV3 die Möglichkeit ausgeschlossen sei, die Messung durch ein Sachverständigengutachten überprüfen zu lassen, sodass die Anerkennung als standardisiertes Messverfahren nicht mehr in Betracht komme. Zur Begründung führte er aus, dass das Messgerät die Rohmessdaten beziehungsweise die Messdaten der gesamten Messung nicht speichere; dadurch werde dem Autofahrer die Möglichkeit genommen, die bestehenden hohen Anforderungen an einen Vortrag zu Messfehlern zu erfüllen.

Das Amtsgericht Duderstadt lehnte den Beweisantrag ab und verurteilte den Autofahrer wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h zu einer Geldbuße in Höhe von 105 €[3]. Die festgestellte Ordnungsmäßigkeit der Geschwindigkeitsmessung begründete das Amtsgericht im Wesentlichen damit, dass die Messung durch den Messbeamten mit dem von der PTB zugelassenen mobilen Geschwindigkeitsmessgerät des Typs Leivtec XV3 durchgeführt worden sei. Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung handele es sich hierbei um ein standardisiertes Messverfahren. Die Beweisaufnahme habe im Ergebnis keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung ergeben. Den hiergegen eingelegten Beschwerdezulassungsantrag des Autofahrers verwarf das Oberlandesgericht Braunschweig[4].

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Die Verfassungsbeschwerde ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unzulässig. Ihre Begründung lässt eine Verletzung von Rechten des Autofahrers nicht erkennen. Der Autofahrer legt die gerügte Verletzung in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG abgeleiteten Recht auf ein faires Verfahren nicht hinreichend dar.

Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist.

Die geringeren Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte nach der Rechtsprechungspraxis zu sogenannten standardisierten Messverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen genügen diesen Anforderungen an ein faires Verfahren, wobei der Betroffene grundsätzlich einen Anspruch auf Zugang zu den bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen hat.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits festgestellt, dass es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist, wenn Fachgerichte in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht im Fall eines standardisierten Messverfahrens ausgehen.

Bei einem standardisierten Messverfahren handelt es sich um ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf derart festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind. Regelmäßig werden technische Messsysteme, deren Bauart von der PTB zur Eichung zugelassen ist, von den Gerichten als standardisierte Messverfahren insbesondere bei Geschwindigkeitsmessungen anerkannt. Kommt bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geringere Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte zu stellen. Das Tatgericht muss sich bei der Berücksichtigung der Ergebnisse von Geschwindigkeitsmessgeräten bewusst sein, dass Fehler nicht auszuschließen sind, und es hat diesem Umstand durch die Berücksichtigung von Messtoleranzen Rechnung zu tragen. Davon abgesehen ist das Tatgericht nur dann gehalten, das Messergebnis zu überprüfen und sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind. Dabei bleibt der Anspruch des Betroffenen, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, gewahrt, wenn ihm die Möglichkeit eröffnet ist, das Tatgericht im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen.

Um dem aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierenden Gedanken der „Waffengleichheit“ hinreichend Rechnung zu tragen, hat der Betroffene in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren einen Anspruch auf Zugang auch zu den bei der Bußgeldbehörde vorhandenen, aber nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen.

Dabei gilt das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten allerdings nicht unbegrenzt, weil andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs bestünde. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte haben im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das den Geschwindigkeitsverstoß betreffende Zugangsgesuch der Verteidigung in Bezug auf die angeforderten Informationen innerhalb dieses Rahmens hält.

Vorliegend zeigt der Autofahrer nicht die Möglichkeit auf, durch das Urteil des Amtsgerichts in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt zu sein.

Zwar ist denkbar, dass der Autofahrer aus Gründen der verfassungsrechtlich gebotenen „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen in einem Bußgeldverfahren andererseits auch Zugang zu − zwar nicht in der Bußgeldakte, aber bei der Bußgeldbehörde − vorhandenen Informationen verlangen kann. Ob auch die vom Autofahrer bezeichneten „Rohmessdaten“ zu diesen herauszugebenden Informationen zählen können, haben die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte im Einzelfall zu entscheiden.

Der Autofahrer schlussfolgert jedoch, der aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierende Gedanke der Waffengleichheit gebiete es darüber hinaus, dass die zuständigen Behörden nur Geräte einsetzen, die sogenannte „Rohmessdaten“ erheben. Damit verlangt er ein Mehr im Vergleich zur bloßen Herausgabe von vorhandenen Informationen, weil nach seinem Vorbringen auch die Bußgeldbehörde nicht im Besitz der von ihm bezeichneten „Rohmessdaten“ ist. Der Autofahrer legt insofern nicht substantiiert dar, dass aus dem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf ein faires Verfahren auch eine staatliche Pflicht folgt, potentielle Beweismittel zur Wahrung von Verteidigungsrechten vorzuhalten beziehungsweise zu schaffen.

Der Autofahrer versäumt es insoweit auch, sich mit den Maßstäben und Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 12.11.2020[5] hinreichend auseinanderzusetzen. Er hätte an die dortigen Ausführungen anknüpfen und darlegen müssen, dass die dort genannten verfassungsrechtlichen Maßstäbe von Verfassungs wegen fortzuentwickeln seien. Denn er stützt sein Vorbringen auf ein von ihm für verfassungsrechtlich geboten gehaltenes Recht auf Vorhaltung beziehungsweise Schaffung von Beweismitteln und damit auf eine Veränderung der Anforderungen an ein standardisiertes Messverfahren. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu standardisierten Messverfahren bei Geschwindigkeitsmessungen konstatiert jedoch lediglich ein Recht auf erweiterten Zugang zu vorhandenen Informationen und dies auch nicht unbegrenzt, sondern abhängig von dem jeweiligen Einzelfall.

In Anbetracht der nicht hinreichenden rechtlichen Substantiierung kommt es nicht mehr darauf an, dass das Vorbringen des Autofahrers auch in tatsächlicher Hinsicht den Begründungsanforderungen nicht genügen dürfte. Dies gilt insbesondere für seine Tatsachenbehauptungen zu den Daten, die das bei der verfahrensgegenständlichen Geschwindigkeitsmessung eingesetzte Messgerät des Typs Leivtec XV3 nach seinen Angaben infolge eines Gerätesoftware-Updates nicht mehr abspeichere beziehungsweise die das Gerät seines Erachtens zukünftig speichern müsse. Hinzu kommen die offenkundigen tatsächlichen Unsicherheiten im Hinblick auf die Relevanz von „Rohmessdaten“ für die Verteidigungsmöglichkeiten des Autofahrers.

Angesichts dieses Befundes zeigt der Autofahrer nicht substantiiert auf, dass das Amtsgericht − bestätigt durch das Oberlandesgericht − vorliegend gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen haben könnte, indem es die angegriffene Verurteilung auf eine Geschwindigkeitsüberschreitung stützte, die im Wege eines (zum damaligen Zeitpunkt) anerkannten standardisierten Messverfahrens ermittelt worden war. Dass das Amtsgericht dabei rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben haben könnte, kann auf dieser Grundlage im Rahmen der gebotenen Gesamtschau auf das Verfahrensrecht nicht festgestellt werden.

Schließlich fehlt es mangels substantiierten Vortrags des Autofahrers an tatsächlichen Anhaltspunkten für eine staatlich veranlasste willkürliche Beeinträchtigung seiner Verteidigungsmöglichkeiten oder für eine sonstige Verletzung der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Pflicht zur Objektivität von Verwaltung und Justiz durch eine reduzierte Vorhaltung
oder Schaffung bestimmter Daten, die aus Sicht des Fachgerichts einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens begründen könnte.

Das Vorbringen des Autofahrers zu der von ihm gerügten Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie seiner Rechte auf effektiven Rechtsschutz (Art.19 Abs. 4 GG) und den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) bleibt offensichtlich unsubstantiiert.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Juni 2023 – 2 BvR 1167/20

  1. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2023 – 2 BvR 1082/21[]
  2. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2023 – 2 BvR 1090/21[]
  3. AG Duderstadt, Urteil vom 10.01.2020  – 3 OWi 784 Js 30188/19 – 347/19[]
  4. OLG Braunschweig, Beschluss vom 28.05.2020 – 1 Ss (OWi) 64/20[]
  5. BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18[]